Eine Schriftstellerin im Berlin des Jahres 1945, die ihre Tochter vor der Deportation nicht bewahrt hat, um sich selbst und ihr literarisches Werk nicht zu gefährden. Eine jugendliche im schwedischen Uppsala Anfang der Achtzigerjahre, die voller Wut auf das Verlassensein durch die Mutter reagiert. Eine schwedische Psychotherapeutin, die um 2005 herum alle Kraft gegen die drohende Selbstaufgabe mobilisiert und sich von ihrem kranken und egozentrischen Mann trennt. Gemeinsam ist diesen drei Frauen verschiedener Generationen, von denen Lotta Lundbergs Roman erzählt, dass sie in eine existenzielle Krise geraten und daraus neue Wege finden, ganz eigene Wege jenseits tradierter Rollenmuster. Jede von ihnen muss eine Entscheidung treffen und den Preis dafür bezahlen, seien es Gefühle der Schuld, der Scham, des Schmerzes, des Verlusts. Mit ungeheurer Intensität gelingt es Lotta Lundberg, in ein fühlsamer und präziser Sprache (von der übersetzerin Nina Hoyer kongenial ins Deutsche gebracht), zugleich kühl analysierend und ihre Figuren behutsam durch die »Unterwelt« – die Hölle von Kriegszerstörung und Holocaust, Albträume und Abgründe des eigenen Unbewussten und emotionale Verstrickungen in Selbstverleugnung – führend, die Innenwelten dieser Frauen, ihre Einsamkeit, Schuldgefühle, Aufbegehren und den Verlust der Empathie mit sich selbst nachvollziehbar zu machen. Immer wieder spiegeln sich die Figuren bzw. die Figurenkonstellationen ineinander, und die Lebensschicksale aller drei – die Schriftstellerin Hedwig, das Mädchen Isa und die Psychotherapeutin Ingrid – berühren einander auf subtile Weise. Die Fülle der Bezüge lesend zu erschließen, gibt der Lektüre eine eigene Spannung, und die Komposition des Romans – der permanente Wechsel zwischen den Figurenperspektiven – erinnert in diesen nach und nach zutage tretenden Verbindungen zwischen den drei Frauenfiguren an Michael Cunninghams Roman
Die Stunden.
In der Figur der Hedwig Lohmann verarbeitet Lundberg Motive aus Leben und Werk Elisabeth Langgässers, die ihre Arbeit als Schriftstellerin als gottgegebene Berufung versteht, der sie alles andere unterordnet. Was bei einem männlichen Autor als »normal« gilt – die Konzentration auf das Schreiben unter Vernachlässigung familiärer und sozialer Verpflichtungen –‚ gilt bei einer Schriftstellerin als moralisches Versagen, wenn sie Mutter ist. Lohmann/Langgässer geht soweit, ihre jugendliche Tochter der Verschleppung durch die Nazis preiszugeben, um selbst weiter schreiben zu können. Sie lebt mit ihren quälenden Erinnerungen und den Schuldgefühlen, ohne sich diese wirklich einzugestehen – an ihrer Stelle lässt sie ihre Figuren den Weg der Schuld und der Buße gehen. In den Wirren des Nachkriegs (er)findet sie, unterwegs von der Trümmerwüste Berlin ins brandenburgische Kloster Anastasiendorf, wo ihre Jugendfreundin Katarina als Nonne lebt, die Figuren des Romans
Märkische Argonautenfahrt. Im Kloster angekommen, konfrontiert Demetria (wie Katarina jetzt heißt) Hedwig mit ihrem Tun und Lassen, mit ihrer Verleugnung und ihrem Versagen. Für Demetria zählt nicht das Werk, das Hedwig geschaffen hat, sondern einzig und allein, was sie ihrer Tochter angetan hat. Hedwig weiß nichts von dem Mädchen, nicht, ob sie in Auschwitz ermordet wurde oder ob sie überlebt hat. Sie redete sich ein, des Mädchens Schicksal läge in Gottes Hand. Die Begegnung mit Demetria ermöglicht Hedwig einen Weg aus ihrer Verzweiflung: Sie schreibt einen Aufruf, um die Tochter wiederzufinden.
Isa, die Tochter eines Neurologen und einer Affenforscherin, ist – neben Demetria – die wohl stärkste Figur in diesem Roman, sie spricht für sich, sie sagt »ich« und sie wagt sich unerschrocken ins Herz der Finsternis. Beide Eltern gehen ganz in ihren Berufen als Wissenschaftler auf, der Vater in Uppsala, die Mutter in Afrika. Das Mädchen wächst im Gefühl tiefster Verlassenheit auf, sie sehnt sich danach, wahrgenommen und angenommen zu sein. Der Vater ordnet eine Therapie für die Tochter an, weil diese ihre Puppe zerschnitten hat. Diese Aggression passt nicht ins Bild eines »richtigen Mädchens«, wohingegen kleine Jungs, die Krieg spielen, keineswegs als aggressiv oder therapiebedürftig wahrgenommen werden. Isa erlebt in der Begegnung mit der Psychotherapeutin, die sie behutsam begleitet, wie es sich anfühlt, vorbehaltlos angenommen zu werden. In der Interaktion zwischen Isa und der Therapeutin lernt das Mädchen, ihren eigenen Weg zu finden, Kraft, Kreativität, Mut und Neugier auf die Welt zu entwickeln, sie lernt ihre Gefühlswelt zu begreifen und in Bildern zu denken und zu verstehen. Im Radio begegnet Isa wiederholt »der Stimme«. Sie gehört einer Journalistin, die aus Kriegs‐ und Krisengebieten berichtet und ihre Authentizität, aber auch Souveränität, aus eigener überwundener Traumatisierung heraus entwickelt hat. »Die Stimme« ist für Isa zugleich Ermutigung und Versprechen, dass auch sie selbst es schaffen wird. Ihre Therapeutin schenkt Isa ein Buch »der Stimme«, von Cordelia Edvardson, der Tochter Langgässers, die als Auschwitz‐überlebende zunächst in Schweden lebte und als Journalistin arbeitete, später in Israel. Isas Geschenk an die Therapeutin ist ein Spiel in einem Schuhkarton, in dem sie die Ereignisse der Therapie bildhaft und spielerisch gestaltet und das Ziel der Therapie festgehalten hat: »sich von seiner Sehnsucht leiten zu lassen«.
Auch die dritte Figur, die Psychotherapeutin Ingrid, lebt in Schweden, in Stockholm. Sie ist mit dem Pfarrer Karl Erik verheiratet und Mutter dreier erwachsener Kinder. Dem Wunsch ihres Mannes folgend ließ sie sich auf dessen Altersprojekt ein, eine Gemeinde auf einer kleinen Schäreninsel zu leiten. Dafür gab Ingrid ihren geliebten Beruf und das Leben in der Stadt mit seinem kulturellen Reichtum auf. Als Karl Erik an Parkinson erkrankt und sich erste Persönlichkeitsveränderungen durch Alzheimer bemerkbar machen, wird Ingrid zu seiner Krankenschwester, während ihr Mann selbst keine Einsicht in seine krankheitsbedingten Einschränkungen zeigt. Er verliebt sich in eine Schriftstellerin, und Ingrid erträgt auch diese Demütigung, der weitere folgen. Um sich nicht selbst vollständig zu verlieren in einem entwürdigenden und fremdbestimmten Alltag, sucht Ingrid, trotz Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, nach und nach immer mehr Distanz. Das klassische Rollenbild der selbstlosen Frau und Mutter will Ingrid, die in ihrem Beruf als Therapeutin ihre Berufung sah, gegenüber ihrem egomanischen Mann nicht mehr erfüllen. Sie besucht ihre Schwester, die sie ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen, sie reist nach Berlin und schließlich in das Kloster Anastasiendorf, wo sie in der Gemeinschaft der Nonnen lebt und ihre Selbstachtung und Lebendigkeit wiederfindet.
Lotta Lundberg, in Uppsala geboren und seit einem Jahrzehnt in Berlin lebend, schreibt für verschiedene schwedische Tageszeitungen.
Zur Stunde Null ist ihr sechster Roman und der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Er wurde 2015 mit dem renommierten Literaturpreis des schwedischen Rundfunks ausgezeichnet. Lundberg hat ihren Roman Cordelia Edvardson gewidmet. Der Mythos von Proserpina wird an mehreren Stellen explizit benannt oder scheint durch. In ihm verbildlicht sich, was jede dieser drei Figuren des Romans durchmacht: Der Gang durch die Unterwelt, die Finsternis, die Hölle, aber auch durch die Verlockungen, die verdrängten und verleugneten Impulse des Unbewussten ist die Voraussetzung dafür, wieder ans Licht des Tages zu kommen, neu geboren zu werden. Langgässers früher Prosatext
Proserpina, dem sie den Untertitel
Eine Kindheitsmythe gab, spielt mit all diesen Implikationen des Mythos. Sie selbst legte der Tochter von Kindheit an die Identifikation mit der mythischen Proserpina nah, der zugleich Auserwählten und Ausgesonderten, die zum Gang in die Unterwelt bestimmt war. Cordelia Edvardson wählt deshalb für ihr Buch
Gebranntes Kind sucht das Feuer den Proserpina-Mythos als Muster, mittels dessen sie ihre Geschichte überhaupt erzählen kann. Auch sie wurde ja von der Mutter ins Totenreich geschickt, dem Gott der Unterwelt geopfert, und auch sie kehrte aus der Welt der Toten zurück, um davon Zeugnis abzulegen. Im Roman trägt Hedwig ihr Buch
Proserpina, wie stellvertretend für ihre Tochter, mit sich auf dem Weg von Berlin nach Anastasiendorf. Der Kranichsteiner Literaturverlag (Darmstadt) hat Langgässers
Proserpina 2014 übrigens neu aufgelegt. Lundberg stellt diesem Mythos in kleinen Begebenheiten, die wie beiläufig erzählt werden, andere Mutter-Tochter-Geschichten zur Seite, Mütter, die eine andere Entscheidung treffen, die ihre Töchter nicht opfern: Da ist die Mutter, die mit der kleinen Tochter gemeinsam den Weg in die Gaskammer geht, und das Angebot des Bewachers, ihr eigenes Leben zu retten, verwirft. Oder die Mutter, die nachts in der Scheune voller Flüchtlinge sich den Soldaten ausliefert, damit ihre Tochter verschont bleibt.
Zur Stunde Null reflektiert – neben anderen Bezügen – auch die Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeit der Schriftstellerin und der Psychotherapeutin im Umgang mit inneren und äußeren Wirklichkeiten, verweht philosophische, religiöse und künstlerische Ideen miteinander und lässt bisweilen an Martin Bubers Satz denken, dass jedes Leben Begegnung sei. Für Buber waren Ich und Du und Ich und Es die Grundwortpaare, wobei das Du gleichermaßen Gott oder Mensch sein kann. Das sind auch Erfahrungswelten,
die Lotta Lundberg in ihrem Roman aufgreift, indem sie jeder ihrer drei Frauenfiguren ein insistierend (hinter)fragendes, emphatisches und akzeptierendes Gegenüber gibt, um den Weg zurück ins Leben zu finden – nach der Stunde Null.